Der Mythos einer rationalen Wahlentscheidung
Die Wahlforschung seit den 1950er Jahren, geprägt durch Werke wie "The People’s Choice" und "An Economic Theory of Democracy", hat die Grundlage für das Verständnis von Wählerverhalten geschaffen. Diese Ansätze konzentrieren sich allerdings hauptsächlich auf kurzfristige Wahlresultate und übersehen die Notwendigkeit langfristiger Beziehungen zwischen Wählern und Parteien. Angesichts wachsender Politikverdrossenheit und der Entfremdung von demokratischen Prozessen ist ein Paradigmenwechsel erforderlich. Politische Kommunikation muss den Wähler ins Zentrum stellen und Demokratie als alltägliche Erfahrung begreifen, um dauerhafte Bindungen zu fördern und die Demokratie zu stärken.
Dennis Rudolf
4/2/20244 min lesen
Seit der „behavioralistischen Revolution“ in den 1950er Jahren stützt sich die Wahlforschung auf eine Tetrade von Klassikern. „The People’s Choice” (Lazarsfeld et al. 1944), „An Economic Theory of Democracy“ (Downs 1957), “The American Voter” (Campbell et al. 1960) und “Party Systems and Voter Alignments” (Lipset & Rokkan 1967) bilden nicht zuletzt deshalb Schlüsselwerke, weil sie einem quasi universellen Problem in den Sozialwissenschaften begegnen: Die Gründe der individuellen Wahlentscheidung bleiben den Forscher:innen prinzipiell ebenso verborgen wie die demokratische Stimmabgabe selbst.
Um das individuelle Wahlverhalten sowie die Dynamik von Parteiensystemen zu erklären, nähern sich ökonomische, sozialpsychologische sowie mikro- und makrosoziologische Ansätze diesem Problem zwar aus unterschiedlichen Perspektiven an, alle teilen jedoch das gleiche Problem: Sie sind in erster Linie nicht an den Wähler:innen selbst interessiert, sondern am jeweils kurzfristigen Ergebnis ihrer Wahl.
Der Status Quo: Aus den 1960ern in das 21. Jahrhundert
Entlang traditioneller Konfliktlinien (cleavages), welche die Gesellschaft und das Parteiensystem langfristig strukturieren, führen sie das Ergebnis der „normalen Stimmabgabe“ (Dalton 2016) auf eine instrumentelle und eine expressive bzw. sozialpsychologische Säule zurück. Einerseits agieren Wähler:innen auf der Grundlage ihrer eigenen Interessen und Werte. Mit Hilfe der vorhandenen Informationen über Parteien, deren Programme, Kandidat:innen und Versprechen treffen sie im politischen Wettbewerb stets nutzenmaximierende bzw. rationale Wahlentscheidungen. Andererseits sind diese eingebettet in eine primärsoziologisch, durch familiäre Einflüsse und die soziale Umgebung, erworbene Parteiidentität, welche den ideologischen Orientierungsraum für die Bewertung von Politik strukturiert und eine „fundierte“ Wahl trotz „begrenzter Kenntnisse“ ermöglicht.
Bis heute bestimmt dieser Status Quo aus der Forschung der 1960er Jahre die Gestaltung der Beziehungen zwischen Parteien und ihrem Elektorat. Parteien setzen nach wie vor allem auf kurzfristige Strategien zur Beeinflussung des Wahlverhaltens. In der „heißen Phase“ von Wahlkämpfen geht es darum, Gesichter, Inhalte und Botschaft unter das Volk zu tragen. Wiederholter Kontakt mit Kandidat:innen, Slogans, Programmen und Versprechen, zielt hier als one-to-many Kommunikation auf die kurzfristige Kongruenz mit potentiellen Wähler:innen ab. Eine bereits vererbte oder dadurch erworbene Parteiidentität wird lediglich alle vier Jahre reproduziert und kann zudem innerhalb von Parteistrukturen, als verkrusteter invited space, für aktives Engagement und als ideologischen Rekrutierungsraum dienen.
Verhängnisvolle Pfadabhängigkeiten für die Politische Kommunikation
In Zeiten eines anhaltenden Vertrauensverlusts gegenüber der Politik sowie der zunehmenden Entfremdung von demokratischen Prozessen und Institutionen, kann es für Demokratie selbst zur Gefahr werden, wenn sich Parteien auf diesen Status Quo zurückziehen. Schließlich sind in den letzten 70 Jahren grundlegende Einwände gegen einen paradigmatischen Konsens des Behaviorismus in der instrumentellen Wahl- bzw. Wähler:innenforschung formuliert worden. Einseitigkeiten haben hier eine adäquate Beschäftigung mit den Gründen von Wahl und Nicht-Wahl geradezu behindert (Schultze 2013). Modelle eines rational handelnden bzw. egoistisch-nutzenmaximierenden Individuums, ignorieren nicht nur die Vielfalt individueller Werte und moralischer Hierarchien, die politische Präferenzen formen, sondern generell die psychologischen, emotionalen und erfahrungsgeleiteten Dimensionen menschlichen Verhaltens. Zudem bleibt das Konzept der Parteiidentifikation weitgehend in seinem Entstehungskontext der Columbia bzw. Michigan School verhaften. Obwohl neue gesellschaftliche cleavages (Kosmopolitismus vs Kommunitarismus, Ökonomie versus Ökologie etc.) den politischen Orientierungsraum und die Parteienlandschaften nachhaltig verändert haben (Dalton 2016), betrachten entsprechende Modelle die zunehmende Volatilität der Wähler nach wie vor als kurzzeitige Abweichung eines „normal votes“, anstatt von einer multiplen Identifikation als neue Normalität auszugehen.
Bestehende Marketing und Politikberatungen kommen Parteien auf dieser Basis insofern entgegen, als sie wahlstrategische Interessen ins Zentrum ihrer Angebote stellen: „Wie gewinne ich die nächste Wahl?“. Sie legen Parteien für ihre Kommunikation eine Mittel-Zweck-Relation nahe, welche die Beziehung zu den Wähler:innen einseitig, hierarchisch und vor allem kurzfristig denkt. Damit verlieren sie jedoch nicht nur den komplexen, multifunktionalen Charakter von Wahlen aus dem Blick, sondern vor allem pathologische Konsequenzen für die Demokratie.
Ein neues Paradigma für eine langfristige Parteibindung
Egal ob positiv oder negativ, „Wahlen“ und „Politik“ sind im Bewusstsein der Bürger:innen untrennbar miteinander verbunden. Als Lebensweise muss Demokratie daher aber mehr sein, als ein bloßer Wahlakt bzw. ein kurzfristiger Wahlkampf. Politik betrifft die Menschen in ihrem Alltag. Und sie muss dort erlebbar und erfahrbar sein, wo sich dieser abspielt: Zwischen den Wahlen und in der jeweiligen Lebenswelt der Wähler:innen. Um die Gründe für das Wahlverhalten sowie neue Formen der Parteibindung zu verstehen und erklären zu können, müssen Parteien ihren Blick weiten. Aktuelle psychologische Forschungsansätze verweisen hierzu auf die Idee eines „Homo Suffragators“ (Bruter & Harrison 2020), dessen Wahlverhalten vor allem Ausdruck einer spezifischen Weltsicht ist. Wahlen stellen keine isolierten Ereignisse dar, zu denen Interessen und Präferenzen abgerufen und abgeglichen werden, sondern Start- und Endpunkte individueller „voter journeys“. In alltäglichen Erfahrungen mit Politik, Medien und Mitmenschen, kumulieren Antworten auf die Fragen „wer“ wir sind, „wie“ wir leben, „was“ bzw. „wem“ wir uns verbunden fühlen und „welche“ Erwartungen wir in bestimmten Bereichen an Parteien und deren Politik haben.
Ein solcher Zugang begegnet dem schwindenden Vertrauen in politische Prozesse, Parteien und Entscheidungsträger:innen, indem er die Wähler:innen in den Mittelpunkt stellt und sie als Zwecke, niemals als Mittel behandelt. Für Politische Kommunikation und Marketing bedeutet dies ein prinzipielles Umdenken. In Zeiten sinkender Parteiidentifikation und einer hohen Volatilität der Wähler:innen, muss Kommunikation stets langfristig und vor allem dialogisch geplant, strukturiert und entwickelt werden. Instrumente des Voter Relationship Design ermöglichen es hier, dauerhafte Beziehungen und positive Haltungen aufzubauen, von denen nicht nur die Parteien am Wahltag, sondern die liberale Demokratie und die plurale Gesellschaft als Ganzes profitieren.
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